„Freie Wahlen einer repräsentativen Volksvertretung bilden das Herzstück jeder parlamentarischen Demokratie. Nicht zuletzt dieses große Anliegen verfolgten daher die Akteurinnen und Akteure der Friedlichen Revolution in der im Jahr 1989. Mit der ersten freien Wahl am 18. März 1990 war dieses zentrale, immer wieder lautstark geforderte Ziel erreicht.
An dieses historische Ereignis sollte daher am 18. März 2020 die Veranstaltung „Die erste frei gewählte Volkskammer – eine Sternstunde der deutschen Parlamentsgeschichte“ in gebührender Weise erinnern.
Vorgesehen war, dass wichtige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Volkskammerwahl in den Kontext der Freiheitsrevolution der Jahre 1989/90 einordnen sowie zugleich einen Bogen in Gegenwart und Zukunft schlagen sollten. Hiermit sollte – gerade angesichts aktueller Tendenzen populistischer Polarisierung – zugleich ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion über Wert und Bedeutung der repräsentativen Demokratie geleistet werden.
Unglücklicherweise konnte die Veranstaltung am 18. März aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus schließlich nicht stattfinden. Um die vorgesehenen Impulse und Stellungnahmen damaliger Akteurinnen und Akteure sowie zeitgenössischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dennoch zugänglich zu machen, haben wir sie an dieser Stelle, gegliedert in die drei Kapitel DAS PARLAMENT, DIE REGIERUNG und HISTORISCHE WÜRDIGUNG, zusammengestellt.
Gewiss, die lebhafte Debatte unter Anwesenden kann dies nicht ersetzen. Doch immerhin stehen die in den vorgesehenen Redebeiträgen und Impulsen enthaltenden Gedanken, Ideen und Vorschläge auf diese Weise für die notwendige weitere Auseinandersetzung mit der Thematik zur Verfügung. Wir sollten auf sie zurückkommen.“
Matthias Platzeck
Vorsitzender der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“
Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck und der Vorsitzende der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, Matthias Platzeck, haben zur Würdigung dieses Tages einen gemeinsamen Artikel in der Zeitung „Die Welt“ vom 18. März 2020 veröffentlicht.
© J. Denzel/S. Kugler
© BArch, Bild 183-1990-0906-405 / Hartmut Reiche, 05.09.1990
Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, studierte evangelische Theologie und arbeitete als Pastor. 1990 trat er für die Partei Bündnis 90 bei der ersten freien Volkskammerwahl an und wurde gewählt. Er wurde zum Vorsitzenden des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS ernannt. Nach der Wiedervereinigung wurde er zum ersten Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR berufen und leitete bis zum Jahre 2000 die sog. „Gauck-Behörde“. Anschließend engagiert er sich für die Demokratie und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. So war er von 2003 bis 2012 Bundesvorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie“.
Joachim Gauck wurde 2012 – parteilos – zum Bundespräsidenten gewählt.
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© BArch, Bild 183-1990-0226-016 / Rainer Mittelstädt, 26.02.1990
Matthias Platzeck, geboren 1953 in Potsdam, als Diplomingenieur für biomedizinische Kybernetik von 1982-1989 zuständig für die Abteilung Umwelthygiene an der Hygieneinspektion Potsdam, engagierte sich in der Bürgerbewegung der DDR für den Umweltschutz und war 1989 Gründungsmitglied der Grünen Liga.
1990 wurde er Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow, war parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktionsgemeinschaft Bündnis 90/Grüne in der ersten und letzten freigewählten Volkskammer und anschließend Bundestagsabgeordneter des ersten gesamtdeutschen Bundestages.
Ende 1990 wurde Matthias Platzeck bis 1998 Umweltminister des Landes Brandenburg, anschließend Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Potsdam. Im Juni 1995 trat er in die SPD ein. 2002 wurde er schließlich Ministerpräsident von Brandenburg und blieb es bis zu seinem Rücktritt im Jahre 2013.
Matthias Platzeck ist Vorsitzender der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“.
Die erste und zugleich einzige frei gewählte Volkskammer – das Parlament der DDR – trat am 5. April 1990 im Palast der Republik in Ost-Berlin zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Der 10. Volkskammer gehörten 409 Abgeordnete an, die überwiegend keine Berufspolitiker/-innen waren und keinerlei parlamentarische Vorerfahrung besaßen. Zur Präsidentin der Volkskammer wurde die Abgeordnete Sabine Bergmann-Pohl gewählt. In den 26 Wochen ihres Bestehens berieten die Abgeordneten in 38 Sitzungen über 759 Kabinettsvorlagen, beschlossen 164 Gesetze und verabschiedeten 93 Beschlüsse.
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© BBArch, Bild 183-1990-0813-302 / Elke Schöps, 13.08.1990
Dr. Sabine Bergmann-Pohl, geboren 1946 in Eisenach, spezialisierte sich nach dem Medizinstudium zur Fachärztin für Lungenkrankheiten und war nach ihrer Promotion in leitender Funktion bis 1990 in Ost-Berlin tätig. Als Mitglied der Ost-CDU wurde sie 1990 in die 10. Volkskammer und zu deren Präsidentin gewählt und galt somit offiziell als letztes Staatsoberhaupt der DDR.
Nach der Wiedervereinigung war Frau Dr. Bergmann-Pohl zunächst Bundesministerin für besondere Aufgaben und danach bis zu ihrem Ausscheiden aus der Bundesregierung im Jahre 1998 Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Gesundheit.
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Dr. Dr. Petra Albrecht, geboren 1955 in Gotha, spezialisierte sich als Diplom-Juristin zunächst auf Agrarrecht und promovierte in diesem Fachbereich. Ihre wissenschaftliche Mitarbeit am Institut für Agrarökonomie schloss sie mit einem zweiten Doktor in Agrarwissenschaften ab.
Frau Albrecht beteiligte sich am Runden Tisch zu Fragen der Landwirtschaft. Als Mitbegründerin der Initiativgruppe der PDS beschäftigte sie sich mit Fragen der Auflösung der SED und saß schließlich als Abgeordnete in der ersten frei gewählten Volkskammer. Aus der PDS trat sie im November 1990 aus. Bereits im September desselben Jahres hatte sie die Zulassung als Rechtsanwältin erhalten.
Frau Albrecht lebt seit 1991 in Frankfurt a. M., und neben einer 20-jährigen Tätigkeit als Redakteurin einer juristischen Fachzeitschrift arbeitet sie bis heute als Rechtsanwältin.
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Konrad Felber, geboren 1953 in Limbach-Oberfrohna, arbeitete bis 1990 als Klempnermeister. Ab Oktober 1989 war er Teil des Neuen Forums und Mitbegründer der Deutschen Forum Partei 1990. Bei der Wahl zur letzten Volkskammer wurde er als Abgeordneter für das Wahlbündnis Die Liberalen als DFP-Mitglied gewählt. Nach der Wiedervereinigung saß er für die FDP im Deutschen Bundestag, kandidierte für diese Partei bei mehreren Landtags- und Bundestagswahlen, engagierte sich in der Kommunalpolitik und als ehrenamtlicher Richter. Er war tätig für den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und leitete zunächst die Außenstelle in Chemnitz, nach einem berufsbegleitenden Studium der Betriebswirtschaft die Außenstelle Erfurt und danach 20 Jahre lang die Außenstelle in Dresden.
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© BArch, Bild 183-1990-0807-019 / Thomas Uhlemann, 07.08.1990
Richard Schröder, geboren 1943 in Frohburg, studierte Philosophie und evangelische Theologie und arbeitete in der DDR zunächst als Pfarrer, dann als Dozent an kirchlichen Ausbildungsstätten. Er wurde 1990 in die letzte Volkskammer der DDR gewählt, war dort bis August 1990 Fraktionsvorsitzender der SPD und bis zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. Nach der Wiedervereinigung, Promotion und Habilitation sowie Lehrtätigkeit an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin wurde er dort zum Dekan ernannt. Richard Schröder ist Vorsitzender des Fördervereins Berliner Schloss und war von 2003 bis 2018 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung.
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Die erste demokratisch legitimierte Regierung der DDR, die aus den 10. Volkskammerwahlen hervorging, wurde von Ministerpräsident Lothar de Mazière geführt. Der Koalitionsregierung gehörten 23 Ministerinnen und Minister an. Sie setzte sich aus Mitgliedern der „Allianz für Deutschland“, den liberalen Parteien und der SPD zusammen. Die neu gewählte Regierung stand vor großen Herausforderungen wie der Einleitung umfassender innenpolitischer Reformen, der Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation und Versorgungslage sowie der Schaffung der notwendigen nationalen und internationalen Voraussetzungen für die Vereinigung beider deutscher Staaten. Außerdem mussten die Altlasten jahrzehntelanger SED-Herrschaft bewältigt und das Vertrauen der Bevölkerung für den eingeschlagenen Weg gewonnen werden.
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© BArch, Bild 183-1990-0226-016 / Rainer Mittelstädt, 26.02.1990
Markus Meckel, geboren 1952 in Müncheberg/Brandenburg, arbeitete nach seinem Studium der Theologie als Vikar und Pastor in Mecklenburg-Vorpommern. 1989 war er mit Martin Gutzeit Initiator der Gründung der SPD in der DDR. Als stellvertretender Vorsitzender der Partei wurde er 1990 in die letzte Volkskammer gewählt. Bis August hatte er das Amt des Außenministers der DDR inne. Nach der Wiedervereinigung saß Markus Meckel für die SPD bis 2009 im Deutschen Bundestag. Nach seinem Ausscheiden aus der Bundespolitik war er u.a. als Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. tätig.
Heute ist er Ratsvorsitzender der von ihm initiierten Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
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Dr. Petra Erler, geboren 1958 in Thüringen, ist studierte Wirtschaftswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Außenwirtschaft. Ab 1984 arbeitete sie am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam, wo sie auch promovierte. Nach den Volkskammerwahlen 1990 war sie zunächst als Beraterin des Außenministers Markus Meckel und Mitglied des Planungsstabes tätig und wurde dann im Juni zur Staatssekretärin im Amt des Ministerpräsidenten ernannt. Nach der Wiedervereinigung leitete sie ab 1991 das Referat für Europapolitik an der brandenburgischen Landesvertretung beim Bund in Bonn. 1999 wechselte Frau Erler nach Brüssel und arbeitete im Kabinett von EU-Kommissar Günter Verheugen, das sie ab 2006 leitete. Seit 2010 ist sie Geschäftsführerin der von ihr mitgegründeten Strategieberatung European Experience Company GmbH in Potsdam.
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Cordula Schubert, geboren 1959 in Karl-Marx-Stadt (jetzt Chemnitz), studierte Medizinpädagogik und unterrichtete an der Medizinischen Fachschule Karl-Marx-Stadt. 1990 wurde sie als Mitglied der CDU in die letzte Volkskammer der DDR gewählt. Sie wurde dort Ministerin für Jugend und Sport und gleichzeitig mit nur 31 Jahren das jüngste Regierungsmitglied. Nach der Wiedervereinigung war sie zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und anschließend im öffentlichen Dienst tätig.
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Die Wahlen am 18. März 1990 waren ein Medienereignis vorher nicht gekannten Ausmaßes und ein Marker deutscher Demokratiegeschichte – wie schon mehrfach in der Geschichte an einem denkwürdigen 18. März. Das Ergebnis der Volkskammerwahlen kam unerwartet und war wegweisend für den Verlauf und das Tempo der deutschen Wiedervereinigung. Das Datum steht auch für den Sieg der Friedlichen Revolution über die Diktatur in der DDR. An diesem Tag hatte die Bevölkerung es in der Hand darüber zu entscheiden, ob es die DDR zukünftig noch geben sollte. Sie setzte ein weltweit sichtbares Zeichen für Freiheit, Selbstbestimmung und Einheit.
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Dr. Bettina Tüffers, geboren 1970 in Frankfurt/Main, studierte Geschichte und Anglistik und wurde nach ihrer Promotion wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e. V. in Berlin. Sie ist Leiterin des Forschungsschwerpunkts „Parlamente in der DDR“.
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Dr. Kerstin Brückweh studierte in Bielefeld und Baltimore und promovierte im Fach Geschichtswissenschaft in Bielefeld. Sie arbeitete u.a. als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in London sowie als Projektleiterin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Frau Dr. Brückweh ist Privatdozentin an der Universität Tübingen und zurzeit Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.
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Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967 in Berlin, studierte Geschichte und arbeitete zunächst als Referent in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter bei dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Er arbeitet heute u.a. als Publizist und Berater zu zeitgeschichtlichen Themen.
Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk ist Mitglied der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“.
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Prof. Dr. Peter Steinbach, geboren 1948 in Lage, studierte Geschichte und Politikwissenschaft und lehrte als Professor für Politikwissenschaft bzw. Neuere und Neueste Geschichte an verschiedenen Universitäten in Deutschland. 2013 wurde er emeritiert. Gemeinsam mit Johannes Tuchel ist Prof. Dr. Steinbach wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.
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